Im Land der Morgenstille
Ein Reisebericht von Lutz Götze
Ein schönes Bild: das Innehalten vor dem Anbrechen des neuen Tages. So versteht sich Korea nördlich und südlich des 38. Breitengrades. Im Norden, den der Besucher – so erzählt ein Freund – am furchterregenden Kontrollpunkt Panmunjeong in der Ferne ausmacht und einen Schritt in das ” Reich des Bösen” wagt, mag das stimmen: freilich um den Preis von Führerkult und Hungersnöten. Ob das neue Regime unter Kim Jong Un Besserungen für das Volk schaffe, bleibe abzuwarten. Im Süden beschreibt die Metapher die Wirklichkeit mitnichten: Keineswegs lediglich in der 15-Millionen Metropole Seoul brandet der Verkehr, schießen unwirtliche Wohnbauten aus dem Boden und hasten die Menschen durch die Straßen.
Doch bereits der zweite Eindruck relativiert alles: In Wahrheit fließt der Verkehr, verglichen mit Nachbarmetropolen wie Beijing, Hanoi oder Bangkok, ruhig dahin, sind die Autofahrer diszipliniert, die Fußgänger keineswegs aggressiv. Koreaner sind gemeinhin ausgesprochen höfliche Menschen mit guten Umgangsformen: im Privaten wie auch im Geschäftlichen. Buddhismus und, mehr noch, Konfuzianismus prägen das Leben: Ein maßvolles Benehmen beschert weder dem Sprecher noch dem Gesprächspartner Gesichtsverlust und ist daher das eigentliche Ziel.
Angenehm auch ist die Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf durchaus ehrlicher Grundlage. China liegt zwar vor der Tür, doch die dortige Art, den Fremden zu überlisten, sein Wissen und seine Werke zu plagiieren und den Weltmarkt mit Ramschware oder hochsubventionierten Solarzellen zu überschwemmen, ist den Koreanern eher fremd – und dies keineswegs nur wegen der geringen Landesgröße und Einwohnerzahl. Südkorea gilt allseits als verlässlicher Partner und ist zu Recht stolz auf seine wirtschaftlichen Erfolge. In vergleichsweise unerhört kurzer Zeit ist das Land vom bitterarmen Agrarstaat zu einer Wirtschaftsmacht des Fernen Ostens aufgestiegen. GroßeKonzerne wie Hyundai oder Samsung sind, neudeutsch gesprochen,Global Players geworden.
Die wirtschaftliche Prosperität freilich hat ihren Preis: Das Land ist im besten Falle eine gelenkte Demokratiezu nennen und im Grunde noch immer eine allenfalls freundliche Variante des einstigen autoritären Regimes von Rhee Syngman, das auch heute noch von den USA dirigiert wird. Den Sprösslingen wird im Alltag bereits vom zarten Kindesalter an, gelegentlich mit eisernem Drill, beigebracht, sich nahtlos in Hierarchien einzufügen und Kritik zu unterlassen. Im Jugendalter wartet eine Vielzahl von Prüfungen auf dem Weg nach oben; wer scheitert, ruiniert den Ruf der Familie, die keine Mittel gescheut hat, ihren Nachwuchs im Karrierestreben zu stärken. Dem derart geschaffenen massiven Druck versuchen sich immer häufiger junge Menschen zu entziehen. Als ultima irratio freilich wählen sie den Suizid.
Internationaler PEN-Kongress
Der Weltkongress des PEN zur Verteidigung der Freiheit des Wortes tagt im Frühherbst 2012 in Gyeongju,der alten Hauptstadt des Silla-Reiches. Etwa zweihundert Delegierte aus aller Welt sind angereist; weit mehr Teilnehmer kommen aus dem Gastgeberland. Sie lauschen den Lesungen der Dichter des Landes: Lyrik und Prosa finden ein großes Publikum.
Erstaunlicherweise finden die literarischen Veranstaltungen zeitlich parallel zu den Plenums-und Sektionssitzungen des Kongresses statt, so dass sich bereits unmittelbar nach Beginn zwei Tagungen und zwei Teilnehmergruppen ergeben: die Einheimischen und die Ausländer. Ein Gespräch zwischen ihnen findet kaum statt. War das die Absicht der Veranstalter?
Das Interesse europäischer, afrikanischer und amerikanischer Delegierter an koreanischer Literatur erlischt dergestalt Zug um Zug: immerhin erhalten sie einige Anthologien moderner koreanischer Lyrik in die Hand gedrückt. Hier ein Gedicht von Ga Ram:
The Future
Yesterday doesn´t change
but, tomorrow does.
May the cloudlike dreams
held in the heart be realized.
Yesterday´s experience
lights a lamp for tomorrow.
Today´s zeal
builds on past unconscious actions.
Invisible future depends on
Visible today´s vision.
Eine verpasste Chance der interkulturellen Begegnung war dies ohne Zweifel, klagen doch Koreanisten und Dichter seit Jahren und keineswegs erst seit 2005, als Südkorea Gastland der Frankfurter Buchmesse war, darüber, dass die koreanische Literatur in der Welt so gut wie unbekannt sei, obwohl mit Yi Munyol oder Ahn Jung-Kyo aussichtsreiche Kandidaten für den Literatur-Nobelpreis bereitstünden. Sind die Koreaner zu bescheiden oder trauen sie ihren eigenen Dichtern so wenig zu?
Die Hauptthemen des Kongresses betreffen, wie in den zurückliegenden Jahren, auch in Gyeongju die Lage verfolgter und inhaftierter Schriftsteller und Intellektueller in der Welt sowie den Erhalt von Minderheitensprachen. Erschütternd ist, dass die Zahl der Länder, in denen kritische Intellektuelle schikaniert werden, in jüngster Zeit weiter zugenommen hat. Nicht nur die sattsam bekannten Terrorstaaten China, Nordkorea, Weißrussland, Ukraine und nahezu alle afrikanischen Staaten gehören dazu; auch Mexiko, Türkei und Ungarn fallen darunter. Mehr noch: In einer Vielzahl demokratischer Länder vollzieht sich die Unterdrückung des freien Wortes subtiler: durch Kürzung und Streichung von Stipendien und sonstigen Fördergeldern, Ablehnungen vonseiten der Verlage, Verringerung der Übersetzungen.
Der Linguozid, also das unaufhörliche Sterben sogenannter kleiner Sprachen, geschieht schleichend und eher im Verborgenen. Geht man derzeit noch von etwa 6000 Sprachen rings um den Globus aus, wird es in fünfzig Jahren noch knapp die Hälfte sein. Regionen derzeitiger Vielsprachigkeit wie der Kaukasus, Ostanatolien, Kamerun, Nigeria und Indonesien verlieren mit dem Aussterben der Protagonisten auch deren Sprachen. Das Englische mitsamt seinen Varianten – Chinesisches Englisch, Kreol-Englisch, Arabisches Englisch, Indisches Englisch – schreitet machtvoll voran; sogenannte Drittsprachen wie das Spanische, Französische, Deutsche, Italienische und Russische degenerieren jenseits der jeweiligen Nationen zu Randphänomenen. Der Kongress in Korea ist ein Spiegelbild dieses Verfallsprozesses: Zwar gibt es offiziell vier Arbeitssprachen – Englisch, Französisch, Spanisch und Koreanisch – doch weit mehr als neunzig Prozent aller Diskussionsbeiträge erfolgen in englischer Sprache. Ist die Sprachenvielfalt ein wirkliches Ziel des PEN?
Bewegend war die Gründung eines nordkoreanischen Exil-PEN, der von geflohenen Dichtern getragen und in Seoul seinen Sitz haben wird; abstoßend hingegen das Auftreten des einzigen Vertreters des chinesischen PEN –zwei Schriftsteller aus Beijing und Shanghai hatten das Reich der Mitte nicht verlassen dürfen – , der sich nicht entblödete, den Kongress eine Farce zu nennen und eine Resolution für die Freilassung des nach wie vor inhaftierten Nobelpreisträgers Liu Xiaobo als Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes abzutun. Peinlicherweise erhielt er dabei Rückenwind ausgerechnet aus Hamburg: In einem Interview hatte Altkanzler Helmut Schmidt erklärt, genauso verhalte es sich in Wahrheit, wenn der Westen China verurteile. Im Übrigen müsse man das Verhalten der chinesischen Behörden beim Massaker 1989 amTienanmen-Platz verstehen: “Soldaten können eben nur schießen!” Originalton Schmidt. Obendrein seien sie zuvor von den protestierenden Studenten provoziert worden.
Der deutsche PEN und der chinesische Exil-PEN widersprachen in einer gemeinsamen Erklärung vehement dieser Geschichtsfälschung und verwiesen auf die in der Zwischenzeit dramatisch angestiegenen Menschenrechtsverletzungen in China. Die Machthaber in Beijing reagierten postwendend mit weiteren Festnahmen missliebiger Untertanen.
Ansonsten dominierte koreanische Fortschrittsgläubigkeit: Der Veranstalter, also der südkoreanische PEN, den Idealen der Freiheit des Wortes und des Schutzes verfolgter Schriftsteller verpflichtet, schämte sich mitnichten, die Delegierten auf dem Wege zu einigen versprochenen buddhistischen Tempeln – die sich freilich in Wahrheit als billige Kopien traditioneller Stätten der Meditation und der Morgenstille herausstellten – zu einem “Endlager” des atomaren Kreislaufes zu befördern, allwo ihnen ein Ingenieur die Vorzüge strahlender Energie zu vermitteln suchte: wenige Jahre nach der Katastrophe im nicht weit entferntenFukushima. Dem geharnischten Protest der deutschen Delegation schlossen sich einige andere Teilnehmer an, freilich eher schweigend. Die Koreaner reagierten wie erwartet: Samsung – der Betreiber der “Entsorgungsstätte” – sei schließlich der Hauptgeldgeber des Kongresses: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing!
Der Protest sollte, nach dem Wunsch der Protagonisten, am Abend in einer Universitätsaula, vor einer Lesung der anwesenden Nobelpreisträger Wole Soyinka und Gustave Le Clézio, vorgetragen werden. Mit rüder Gewalt freilich wurde ein deutscher Delegierter am Reden gehindert! Hinter den Streitenden hing paradoxerweise ein Plakat mit dem Motto des Abends: Free the word! Am Folgetag, im Kongressplenum, ließ sich der Appell dann jedoch nicht mehr vermeiden: Schließlich handelte es sich um den PEN und nicht um die Generalversammlung der deutschen und/oder koreanischen Energiewirtschaft. Sogleich nach meinem Beitrag spaltete sich der Kongress in zwei Lager: in solche Delegierte, die der Forderung zustimmten, der PEN werde unglaubwürdig, verbündete er sich mit der Atomwirtschaft, und solche, die sich dieser “Einmischung in koreanische Angelegenheiten” widersetzten. Als Krönung verlangte der Präsident des koreanischen PEN, die deutsche Delegation solle sich für diese Beleidigung, verbunden mit beiderseitigem Gesichtsverlust, entschuldigen. Was natürlich unterblieb.
Deutsche Reaktionen
So viel zum Land der Morgenstille. Noch eines freilich: Deutsche Medien berichteten so gut wie nicht über den Kongress sowie seine kulturellen Unwägbarkeiten und Arbitraritäten. Stattdessen nahmen sie eine Messe in Seoul zum Anlass, auf vermeintlich grandiose Neuentwicklungen der koreanischen Automarken KiAund Hyundai hinzuweisen: In der Mittelklasse hätten die Koreaner dank dessen deutsche und japanische Konzerne bereits vom Markt verdrängt, in der “Nobelklasse” machten sie BMW, Audi und Mercedes dank besserer Emissionswerte, neuen Designs und stärkerer Motorleistung ernsthaft Konkurrenz. Der geneigte Leser, seinen Faust im Kopf, dachte freilich sogleich an die Botschaft, die er wohl höre, doch nicht zu glauben vermöge.
So ist es wohl tatsächlich und wird es auch in Zukunft bleiben: Solange im Fernen Osten kollektives Entscheidungsprocedere, verbunden mit starren Hierarchievorstellungen, vorherrscht, wird im weltweiten Verdrängungswettbewerb von Wirtschaft und Wissenschaft individuelles – also im besten Sinne europäisches – Forschen, Tüfteln und Entwickeln obsiegen. Wann die Koreaner, unterstützt von angeworbenen deutschen Ingenieuren, den Weg von der Kopie zum Original schaffen werden, steht in den Sternen. Für Europäer freilich sollte dies alles andere denn ein Freibrief sein, sich zurückzulehnen.
Ein letzter Eindruck stimmte mehr als versöhnlich; er beglückte geradezu. Nach einem Vortrag zu Entwicklungen der deutschen Gegenwartssprache an der Deutschen Schule in Seoul erfuhr der Philologe, dass – mit weitem Abstand – an erster Stelle bei allen in Korea Deutschlernenden die Motivation stehe, später nach Deutschland zu gehen, um Musik zu studieren und, heftigster aller Wünsche der jungen Damen und Herren, in einem deutschen Spitzenorchester zu spielen. Dort also, wo Geist und Sinne auf das schönste zusammenträfen, wie es eine junge koreanische Germanistin ausdrückte. Nicht Technik und der schnöde Mammon also motivierten zuvörderst, sondern Euterpe und Polyhymnia faszinierten im Lande der Morgenstille.
Tief zufrieden besteigt der Betrachter das Flugzeug, das ihn nach Europa bringt.