Von Farabi Orhan
Ein Schneider bin ich. Wie du, du, du und du. Wie alle bin ich ein Schneider. Es ist unser Familienberuf. Aber diese Schneiderei ist als Beruf so geartet, dass weder ich ihn von meinem Vater erlernen konnte noch mein Großvater ihn meinem Vater beibringen konnte. Nun ja, man kann auch nicht gerade sagen, dass ich etwas von meinem Beruf verstehe. Sie werden nun dagegen einwenden: Nimmst du etwa auch noch Geld dafür? Aber ich werde versuchen Ihnen, so gut ich kann, zu erzählen, „was ich alles versuche zu erreichen, wofür ich mich so bemühe“ (mein Vater beschrieb unseren Beruf immer mit diesen Worten). Sie haben doch gefragt, ob ich auch noch Geld dafür nehme. Nein. Ganz im Gegenteil können wir sagen, dass ich sogar noch obendrein Geld dafür zahle. Aber solche Worte können ja wohl nur dazu führen, dass Sie Mitleid mit mir haben und um ihr Mitleid zu heischen, wäre das letzte, was ich wollte. Ich sollte wieder zu meinem Beruf zurückkehren.
Wenn ein Hemd an einer Stelle zerrissen ist, der Riss bemerkt wurde und an dieser Stelle im Sommer das brennende Sonnenlicht, im Winter die Kälte zu spüren ist, ist es an der Zeit, das Hemd zu wechseln. Wenn aber die zerrissene Stelle den Träger zu keiner Jahreszeit stören sollte, wäre es am besten, diesen Riss einfach zu belassen. Die Kommentare der Augen, die ihn sehen, sind dabei unerheblich. Das Hemd sollte, solange es dem Träger und der ganzen Menschheit einen Nutzen bringt oder bringen könnte, weiter getragen werden. Warum soll es denn von Bedeutung sein, wie es aussieht?
Und wenn es dann passiert und das Hemd bekommt einen Riss und wenn wir ihn bemerken, sollten wir die zerrissene Stelle flicken und nicht gleich das Hemd wechseln. Als Menschen machen wir meist den Fehler, das Hemd zu wechseln und damit das Hemd wieder an der gleichen Stelle oder an einer anderen, an der zerrissenen Stelle anzuziehen. Ja, es kommt vor, dass wir das Hemd an der gleichen Stelle, an der zerrissenen Stelle wieder anziehen. Und der Riss ist genau dort, weder ein Zentimeter weiter oben noch ein Zentimeter weiter unten. Warum macht der Mensch das? Weil er es zulässt, dass seine Arroganz ihn nicht davon abhält. Weil er es zulässt, dass er das zerrissene Hemd auszieht und wieder ein zerrissenes anzieht. Und genau an diesem Punkt muss eine Person alle Gabeln, die sich unter sein Kinn gestochen haben, einzeln aussortieren und einsehen, dass er sich nicht brüsten sollte.
Ich habe von sich brüsten gesprochen. Die Person, die einmal feststellt, dass sie sich nicht brüsten sollte, ist diejenige Person, die es vermag, ihr Hemd zu flicken. Ach, ich bewundere den Menschen so sehr, der sein eigenes Hemd flicken kann. Jetzt haben Sie es verstanden. Weder mein Vater, noch mein Großvater, noch meines Großvaters Vater flickten oder nähten das Hemd eines Anderen. Wir sind wie Sie, Sie, Sie und Sie dabei, unsere eigenen Hemden zu nähen, haben schon oft diese Hemden gewechselt und haben dann wieder Hemden mit Rissen an den gleichen Stellen angezogen.
In meiner Familie – vielleicht in der ganzen Menschheit – war ich einer, der am meisten sein Hemd wechselte. Es gab eine Zeit, in der ich dies so schlimm übertrieb, dass ich mich nunmehr nicht über die ausgewechselten Hemden sondern über diejenigen, die ich noch nicht angezogen hatte, wunderte. Ich war so gut darin, ein zerrissenes Hemd gleich wieder mit einem anderen auszuwechseln. Und meist habe ich das zerrissene Hemd mit einem ausgewechselt, das an der gleichen Stelle zerrissen war. Ich hatte eine Eigenart: Immer wenn ich mein Hemd wechselte, war das neue Hemd makellos für mich. Und ich sprach davon, wie alle Hemden vor diesem zerrissen und ekelhaft waren – natürlich angereichert mit meinen Übertreibungen. Dieser Ekel wuchs dann so sehr, dass wenn ich eine Person auf der Straße erblickte, die ein Hemd trug, das ich ausgewechselt hatte, große Lust bekam, sie zu Tode zu prügeln, ihr die Gurgel umzudrehen und dann ohne ein Fünkchen schlechtes Gewissen ruhig ein Schläfchen darüber zu halten. Natürlich, dieser Möchte-Gern-Zerrissenes-Hemd-Träger war doch nur ein Hochstapler. Diejenigen, die dieses Hemd trugen, mussten im Sinne des Überlebens der Menschheit sofort vernichtet werden. Das war wie das Amputieren eines Beines mit Wundbrand. Das war eine Handlung, die nicht bereut werden durfte. Das Mitleid, das diesen Personen entgegengebracht wurde, war keine Hilfe eines gutmütigen Mitleidenden für denjenigen, der in einem bemitleidenswerten Zustand war; es war die Bescheidenheit des übergeordneten Lebewesens gegenüber dem niedrigsten aller Lebewesen.
Bisher konnte kein Schneider ein makelloses Hemd nähen. Jeder Schneider hat anstatt die zerrissene Stelle seines Hemdes zu flicken, das Hemd in der Hautfarbe genäht, um den Riss zu verbergen. All die Hemden waren nämlich dem Menschen eigen und sollten von Menschen getragen werden. Haben Sie denn jemals ein Schaf gesehen, das ein Hemd trägt? Eigentlich habe ich so etwas schon mal gesehen. Sie trugen blütenweiße Hemden. Und ihr Fell füllte die Risse so schön aus, dass keine Person, die nicht genauer hinschaute und deren Gehirn nicht akzeptierte, dass Risse in der Natur des Gegenstands lagen, hätte sagen können, dass die Hemden dieser Schafe zerrissen waren. Eigentlich hätte keine Person, die die Natürlichkeit der Risse an Hemden nicht akzeptierte, sagen können, dass es sich bei ihnen um Schafe handelte. Ich kann auch nicht gerade sagen, dass sie biologisch den Schafen ähnelten, aber wenn einer unter ihnen ein anderes Schaf oder eine Person, die es aufgegeben hat, ein Schaf zu sein – oder die nie ein Schaf gewesen ist – angriff, griffen auch alle anderen an. Es ist ein Klischee, dass wenn ein Schaf springt, seine Freunde in der Herde auch hinterher springen. Seltsam ist nur, dass es nie vorgekommen ist, dass eine Schafherde mit vereinten Kräften einen Wolf besiegen konnte. Wenn sie wenigstens das geschafft hätten, hätte das Schafsein etwas Ehrenhaftes. Welche Wissenschaft oder welche Genkarte könnte nach diesem Punkt gewährleisten, dass wir ihr Schafsein negieren?
Schneider haben ständig verschiedene Lügen in die Welt gesetzt, um die Menschen glauben zu machen, dass die zerrissenen Hemden, die sie nähen, makellos sind. Manchmal haben sie gesagt, es sei „für die Menschheit“, ein andermal „für die Ewigkeit“, und dann haben sie den Hemden auch manchmal so einen unsinnigen Wert beigemessen, dass sie „für mich“ sagen mussten, und die Menschen haben diese Hemden getragen. Der Mensch ist seinerseits so begabt darin, den Riss in seinem Hemd zu verbergen, dass er selbst auch an die Makellosigkeit seines Hemds glaubt. Und wenn dann dieser Punkt überwunden ist, sind die Schneider so erleichtert und die Kunden fangen an die Last von Ballen von Stoffen selbst zu tragen. Die Kunden glauben nicht nur an die Lügen ihrer Schneider, sondern fügen noch Lügen um Lügen hinzu und machen ihre bemitleidenswerte Lage noch schlimmer. Und leider hatten die Schneider keine Ahnung vom Flicken, aber sie waren Meister im Negieren der Risse in den Hemden, die sie nähten. Und wie waren ihre Kunden? Sie konnten den Schneidern das Wasser reichen beim Verneinen der Möglichkeit des Flickens. Eigentlich hätten die Schneider wie auch ihre Kunden das Flicken in einem „Augenblick“ erlernen können. Und eigentlich waren die Kunden auch gleichzeitig selbst Schneider.
Ich hatte gelogen, als ich sagte, dass die Schneiderei unser Familienberuf ist. Ich bin Autodidakt. Ich habe mir diese wunderbare Tätigkeit selbst beigebracht. Wie wir alle. Wie Sie alle. Mein einziges Problem ist, dass ich denke, ich würde ein makelloses Hemd nähen oder ich könnte irgendwann eines nähen. Oder dass irgendjemand von Ihnen es nähen könnte, es genäht haben könnte…
Aus dem Türkischen von Şebnem Bahadır
Über den Autor
Farabi Orhan
Er wurde im Jahr 1993 in Aydın geboren. Er erhält den Namen Farabi, nach einer Weile wechselte seine Großmutter zwischen Eflatun (Platon) und Farabi. Obwohl er Germanistik und Archäologie studierte, hat er keines von beiden absolviert. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Taxifahrer, Interviewer, Kellner und Handelsvertreter. Seit seinem achten Lebensjahr führt er ein Tagebuch und interessiert sich seit vielen Jahren für Literatur.
Über İlkyaz
İlkyaz wurde mit Unterstützung des PEN International sowie des norwegischen und türkischen PEN gegründet, um die Vorstellungskraft von Schriftstellern unter 35 Jahren zu fördern, deren Werke zu übersetzen und diese einer internationalen Leserschaft vorzustellen. Initiator ist Ege Dündar, der gemeinsam mit Irmak Ertaş und den Kollegen im Beirat des internationalen PEN, Halil Gediz und Özge Sargın, diese einzigartige Anlaufstelle für junge türkische Literatur geschaffen hat.