Platz für Literatur – Gesammelte Beiträge

Das deutsche PEN-Zentrum schafft Platz für Literatur seiner Mitglieder und veröffentlicht an dieser Stelle Gedichte, Aphorismen und kleine Erzählungen.


sweet dreams are made of this

ich saß in einem kleinen nest
once upon a time in the west

ich hatte gar nicht viel zu tun
trotzdem war es schnell high noon

ich kraulte traurig meinen setter
da traf hier ein the purloined letter

und ich war endlich wieder froh
gab es doch post von edgar allan poe!

Eberhard Geisler


WIE KLAR DIE BESTÄNDIGKEIT DER FESTE/
DIE VERGÄNGLICHKEIT DER FEIERNDEN MACHT.

ALLES IST VARIATION/ AUF
EIN UNBEKANNTES THEMA.

ZWISCHEN GOTT UND TIER IST EIN SEIL
GESPANNT/ UND DER MENSCH TANZT AUF
DER MITTE/ IM CLOWNSGEWAND

Nikola Anne Mehlhorn


Frostige Flächen

Ich sehe mich
Über den zugefrorenen Stadtteich laufen
(Betreten auf eigene Gefahr)
Und das Eis unter meinen Füßen
Knackt bedrohlich
Risse schießen durch
die schimmernd-glatte Oberfläche
Die kurz davor scheint
Auseinanderzubrechen
Ich würde versinken
In nasskalter Tiefe
Doch meine Schritte sind hurtig
Todbringende Löcher
Öffnen sich
Wasserüberspült
Erst hinter mir
Am Abend versuche ich
Eisblumen
Die es damals noch gab
Mit meinem Atem
Von der Fensterscheibe
Wegzuhauchen

Werner Streletz


Endzeit

Nichts kann für immer existieren.
Stephen Hawking

Ausgesetzt in meinem Herzen
Versteckt ein kleiner Platz
der Gefühle
Und nur als Krankschreibung
zeigt sich Erinnerung
Die ich mit Glaceehandschuhen
entsorge

Jetzt ist Abstand gefragt
Rekonvaleszenz der Fürsorge
Auf zwei Meter
Selbst Greta weiß
nicht wirklich
Wie kostbar Leben ist

Die Gestirne stehen
unergründlich
Orion schnallt den Gürtel
Das Himmels-W widersteht
Dem Schwarzen Loch
Andromeda wird nicht geopfert
Im Stillen vollzieht
Sich die Veränderung

Wenn du einen grünen Zweig
In deinem Herzen trägst
Wird sich ein Vogel
Darauf niederlassen
Das sei dein Lied
Es ist ewig


Aus: Jenny Schon, Fragen bleiben…vita variatur, Gedichte, Geest Verlag, 2020.


Kein Kopf mehr 

Kopflos stolpert er
übers Kopfsteinpflaster
und zerbricht sich den Kopf,
was ihm Kopfschmerzen bereitet
und ihn um sein Kopfhaar bringt.
Eigentlich hilft nur ein Kopfschuss,
aber so kopflos ist er noch nicht.
Doch immer wieder schüttelt er den Kopf
und droht zum Wirrkopf zu werden.
Ein Dummkopf , nein, war er doch nie,
auch wenn Kopfrechnen nicht seine Stärke war.
So aber bringt er sich um Kopf und Kragen
und wird den Kopf noch verlieren,
obwohl er den Kopf nie riskieren wollte.
Er würde gern eine Flasche köpfen,
aber deswegen zum Saufkopf werden?
Er will nicht mit dem Kopf durch die Wand.
Also geht er am Abend Doppelkopf spielen
mit den Schrumpfköpfen seiner Generation
Und wird sich keinen Kopf machen
um den headhunter,
der seinen Kopf nicht mehr will.

Matthias Bronisch


Was wissen wir

Was wissen wir von den Dingen?
Vom Tisch, der einmal Baum war?
Von seinen Maserungen,
von Spinnfäden im Wind?

Als der Tisch Baum war
– die Blätter glänzend von Sonnenschein –
schwirrten Vögel zwischen den Ästen,
und das Laub rauschte im Wind.

Was wissen wir vom Wind?
Von seinen Höhenflügen,
von Tromben, Turbulenzen,
der Stille im Auge des Huracáns?

Hätten wir Flügel,
wir flögen über den Ozean,
wir flögen bis nach Afrika.
Wir flögen, wir flögen.

Hier auf dem Tisch
zeichnet der Finger
Die Fladerung nach,
umkreist das Loch eines Astes.

Hier wuchs ein Zweig, sagen wir,
auf dem einmal ein Vogel saß.
Als die Säge zu sägen begann,
flog er davon.

Renate Wiggershaus


in einer Kirche sitzen und auf die Rücken der anderen sehen, während der Pfarrer spricht und die Worte von den Wänden widerhallen und dann die Orgel einsetzt, laut und dröhnend, so dass die Töne in der Bank vibrieren und ein Kribbeln den Nacken hochwandert, bis auf den Kopf und auch seitlich, über die Ohren und man ganz still sitzt, starr, damit nichts verloren geht, damit das Kribbeln bleibt und weitergeht, auch wenn dann die Orgel wieder aussetzt und die Leute aufstehen und sich wieder setzen und schließlich der Pfarrer weiterspricht und die Köpfe sich senken, so dass ich vorsichtig zu den Seiten sehe und nach vorne, auf die Rücken und Jacken und Haare, kucke, ob auch die anderen das Kribbeln spüren und festhalten und ob sie auch wegen dieses Gefühls gekommen sind, im Nacken und auf dem Kopf und auch seitlich, über den Ohren

Cornelia Manikowsky


Fortgehen oder bleiben

… wenn ich bleibe, wird meine Seele brennen …
… wenn ich fortgehe,
mein Leben …

Emina Kamber


Der Poet im Wildstrom der Zeit

Es ist weit verbreitet, sich verkorkste Verhältnisse schön zu trinken. Herr Lautenleder war Abstinenzler, aber auch Schriftsteller, weshalb er den Versuch unternahm, sich das Jahr 2020 schön zu dichten. Die Kunst des poetischen Umdeutens besteht darin, die Bezeichnung bedrückender Phänomene mit guten, herzerwärmenden Gedanken aufzuladen. Wenn Lautenleder von nun an in den täglichen Nachrichten auf das Wort Corona stieß, erhob sich vor seinem inneren Auge ein Siegerkranz nach antikem Vorbild, und er sah sich selbst als Träger des Kranzes. Im Bett durchblätterte er zum Einschlafen stets das weitschweifige Ritterepos Corona des Romantikers Friedrich de la Motte Fouqué von 1814. Dabei sah sich Lautenleder hoch zu Ross, mit einer Lanze im Arm, mit der er, wild über die Heide reitend, übergroße Viren aufspießte. Eine Freundin machte ihn auf Paul Celans Gedicht Corona aufmerksam. Er sah mit Celan eine Zeit heraufziehen, in welcher „der Stein sich zu blühen bequemt“. Corona verband Lautenleder jetzt allerdings mit einem unbeweglichen Felsen, ein solcher war er nämlich über das zu viele Lesen und Schreiben während des Lockdowns geworden. Das Wort Pandemie geriet zum schlimmsten Ärgernis, dessen Neudeutung für ihn, den Poeten, jedoch ein Kinderspiel war: Kurzerhand sägte er wie der Magier die Jungfrau das Wort in Gedanken auseinander, stellte sich den vorderen Teil als heiteren Hirtengott Pan vor und den hinteren als weibliche französische Hälfte. Zufrieden war er damit freilich nicht: Lautenleder handelte sich die Zwangsvorstellung ein, dass ein halber Pan eben kein ganzer und die halbierte mythische Naturfröhlichkeit fast eine Traurigkeit sei. Schließlich griff er wie seine Kollegen wieder zur Flasche. Denn nur im Wein wohnt jene poetische Wahrheit, die den lebensweltlichen Nichtschwimmer schadlos hält.

Martin A. Völker


Ruhr

Viele Städte und doch
nur eine
Perlenkette, aufgereiht
an einer Schnur
B 1
Bin ich schon in
Bochum oder immer noch
in Dortmund
Egal, ich bin
zu Hause
Überall Erinnerung
an Bergbau
wo mein Vater arbeitete
im dunklen Loch
in staubiger Nacht
wo wir Fußball spielten
hinter Zechenhäusern, auf
Ascheplätzen, Schlacke
aus der Kokerei
jeden Tag, alle
in geflickten Klamotten
so wie ich
Sie sind noch da
die Plätze, manchmal selbst
Kinder, die aussehen wie wir
damals, überall  Heimkehr
überall der Geschmack
von Kindheit

Heinrich Peuckmann


Am Morgen

Jeder Morgen glaubt an Gott.
Karl Krolow

 

endlich fällt in dich ein
das Licht   Geträumtes brauchst du
dir nicht zu deuten
vor dir liegt ein Blatt
das macht keine Angst
du frierst nicht    deine Haut
ist vertraut mit der Luft
du könntest Berührung riskieren
du setzt dich    du horchst
schaust aus dir heraus    und die
Augen    ein starkes ein schwaches
wie sind sie voll Eifer
bei der Erschaffung der Welt

Tina Stroheker



Notstand

So ging die Sonne auf,
heute eine angefaulte Tomate,
kalt und unwirklich.
Notstand ist angesagt,
verboten die Straße, der Park,
die Wohnung zu verlassen.
Virologen erklären die Welt
und Viren herrschen
im Küchenradio, selbst
in unserem Briefkasten,
in der Suppe, im Fernseher,
flattern über den Blumen
vor der Haustür
und verteilen sich
auf der Fensterscheibe.
Ich beschließe, mich zu waschen
und ein Gedicht zu schreiben,
ist doch schönes Wetter.

Wolfgang Bittner


Weihnachtsinsel – in die blau-grüne Flagge gerettet der endemische Weißschwanz-Tropikvogel, ausgestorben hingegen spurlos die Weihnachtsinsel-Ratte und die Weihnachtsinsel-Spitzmaus. Und auf der Roten Liste der gefährdeten Arten der Weihnachtsinsel-Flughund… Zu Millionen aber bevölkern schreiend rote Weihnachtsinsel-Krabben das Eiland, seit jeher jedoch nur im November.

Jürgen Jankofsky


der realexistierende

Engel schwebt
über den Dingen
nur selten noch
lässt er sich herab
ein Menschlein zu taufen

die alte Zeit lehnt
rostend an der Wand
der Blick zum Himmel ist
versperrt
vom frisch gedeckten Dach

Rainer Wedler


Wein-Nacht
Von weitem
Von weitem klingt es
Wie sanftes Tönen
Von weitem
Von Weitem funkelt es
Wie Sternenschimmer
Aus der Nähe
Aber
Aus der Nähe
Heult der Wind im Stacheldraht
‘Erfrieren die Tränen am kalten Metall

Marion Tauschwitz


alles was odem hat

aufatmen unter
atemschutzmasken
luftholen schnappen
nach reinen partikeln
versprochener luft

Oskar Ansull


In der Rumpelkammer des Dichters

In der Rumpelkammer des Dichters
liegen verstaubt in einer Ecke
das Wort für Liebe die Hülsen
für das Meer und den Sonnenuntergang

In der Rumpelkammer des Dichters
vergeht die Zeit hin und her
das Herz hat sich totgeschlagen und der Mond
scheint abgegriffen hinter einem Spinnennetz hervor

Auch die Dämmerung hat sich eingefunden
zusammen mit dem Himmel der Sonne und den Sternen
weilt sie auf dem Schrank aus hölzernen Floskeln
in dem Leben und Tod um den Einsatz spielen

Stille liegt über der Rumpelkammer des Dichters
neben dem Schweigen dem Lächeln dem Kuss
Die Gerippe von Einsamkeit Schmerz und Trauer
hängen veraltet an der Wand

Die Hoffnung auf den Platz in einer Zeile
liegt aussichtslos in einer Truhe aus Eisen
Die Tür zum Papier bewacht
schlagkräftig der Zeitgeist und draußen

sitzt der Dichter mit grübelnder
Miene vor dem Schild
Betreten verboten

Matthias Kneip


Mexico-Stadt

„Als habe es die Pest, machen die Passanten in der Straße einen großen Bogen um das schmutzige Kind. Fünf oder sechs Jahre mag er alt sein, der kleine Indio-Junge, der davon nichts mitbekommt, sondern selbstvergessen vor einem noblen Juweliergeschäft in Amberes steht, in Träumen versunken, und sich die Nase an der Schaufensterscheibe platt drückt, fasziniert von zwei zierlichen silbernen Vögeln in der Auslage. Leise und selbstvergessen singt er vor sich hin und erzählt sich die wundersame Geschichte der beiden Vögel, wie sie von weit her den Weg in diese Stadt, in diese Straße, zu diesem kleinen Jungen gefunden haben. Und niemand sonst kann ihm diese Geschichte erzählen, nur er selbst.“

Petra Reategui, Köln. Aus meinem Reisetagebuch 1995


Über das Ende hinaus

Ich gehe in letzter Zeit nicht oft aus dem Haus. Zum Einkaufen dann und wann, ein paar Mal im Jahr ins Kino oder ins Theater. Aber wenn ich, selten genug, auf die Straße gehe, passiert es mir prompt, dass mich jemand verblüfft anschaut oder sich nach mir umdreht, sobald ich an ihm vorbeigegangen bin, und wenn ich mich dann meinerseits umschaue, lese ich in seinem Gesicht, was er denkt. Den gibt es also noch, denkt er. Oder: Das gibt es doch nicht. Der muß doch längst tot sein.

Neulich im Foyer des Theaters, spürte ich plötzlich, wie mich jemand fixierte. Eine Frau mittleren Alters, vielleicht fünf Meter von mir entfernt stand sie und starrte mich an. Als ich zu ihr hinübersah, schlug sie die Augen nieder. Trotzdem bemerkte ich, wie sie erschrak, wie sie über ihren eigenen Gedanken erschrak: Daß der immer noch lebt! Wahrscheinlich meinte sie gar nicht mich, jedenfalls nicht jenes Ich, das den ganzen Tag in meinem Zimmer sitzt, bei zugezogenen Vorhängen im Sessel vor sich hinträumt oder am Schreibtisch in alten Fotos und Papieren kramt, das nur gelegentlich auf die Straße tritt, um das wenige einzukaufen, das ein einzelner alter Mann zum Leben braucht, oder um sich in einer der seltener werdenden Aufwallungen von Neugier unter die Menschen zu mischen. Wahrscheinlich meinte sie einen anderen, von dem sie bisher angenommen hatte, er sei längst verstorben.

Ehrlich gesagt, ist es mir gar nicht einmal unangenehm, dass man nicht mit mir rechnet, dass ich nicht dazu gehöre, sozusagen schon aussortiert bin. Manchmal stehe ich eine geschlagene Stunde auf einer Gesellschaft herum, stehe mitten unter Leuten, die sich angeregt unterhalten und dabei aus den Augenwinkeln nach bekannten Gesichtern spähen, und werde übersehen. Als gäbe es mich nicht, bewegen sich die Menschen um mich herum, zuweilen stößt mich jemand im Vorbeigehen an, murmelt Pardon!, ohne mich anzusehen, ein anderer schiebt mich einfach zur Seite, um jemand zu begrüßen, der hinter mir steht. Es ist fast, als wäre ich unsichtbar. Und nach einiger Zeit verhalte ich mich auch wie ein Unsichtbarer. Ich stehe ganz nah bei einem Ehepaar und höre, wie die beiden flüsternd Gehässigkeiten austauschen über eine junge Frau, mit der sie soeben noch überaus freundlich geplaudert haben. Ich dränge mich in einen Kreis älterer Damen, ohne dass diese mich zur Kenntnis nehmen, und betrachte ohne die geringste Scheu den faltigen Hals meiner Nachbarin, der von einem Hermès-Tuch nur unvollkommen bedeckt wird.

In einem gewissen Sinn genieße ich es, überständig zu sein. Mein unerwartetes, von niemand in Rechnung gestelltes Nachleben gibt mir die Freiheit, die ich zu Lebzeiten nie besaß. Ich kann machen, was ich will, ich brauche mein Verhalten vor niemand zu rechtfertigen. Ich bin nicht verantwortlich, nicht für mich und nicht für andere, weil ich einfach nicht existiere. Und wenn mich dann doch plötzlich jemand wahrnimmt, wenn er mich anstarrt, als wäre ich soeben aus dem Boden emporgewachsen, und sagt: Entschuldigen Sie, sind Sie nicht…?, dann ändert das auch nicht viel, weil man von einem Toten oder Totgeglaubten nichts erwartet. Im Grunde nicht einmal eine Antwort.

Meistens antworte ich auf solche Fragen nicht. Ich blicke den Fragenden ruhig an, sehe, wie es in ihm arbeitet, wie er sich auf die Lippen beißt, weil ihm seine eigene Frage peinlich, äußerst peinlich ist. Entschuldigen Sie, stammelt er. Ich dachte… Für einen Moment… Ein Irrtum… Entschuldigen Sie! Meistens versucht so einer dann, so schnell er kann, sich meinem Blick zu entziehen. Ein Irrtum? Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch etwas anderes. Manchmal denke ich, daß ich über die mir zugemessenen Lebenszeit hinauslebe, daß ich sozusagen eine Extrarunde drehe, die für den Ausgang des Rennens nicht mehr von Bedeutung ist. Vielleicht sehen sie es mir an, vielleicht spüren sie instinktiv, daß ich eigentlich nicht mehr dazu gehöre.

Wissen Sie, an wen Sie mich erinnern?
Ganz plötzlich steht der joviale Herr mit der angehenden Glatze vor mir, lacht mich freundlich an, als kennten wir uns seit ewigen Zeiten. Gleich wird er mir erzählen, dass ich seinem Urgroßvater väterlicherseits oder einem vor Jahren bei einem Unfall verstorbenen Nachbarn oder dem Gründer der Firma Leverenz und Sohn, bei der er als Prokurist tätig ist, wie aus dem Gesicht geschnitten bin.
Wie aus dem Gesicht geschnitten, sagt er. Man könnte fast meinen, er sei von den Toten auferstanden.
Er zieht seine Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts, klappt sie auf, holt ein Foto hervor, hält es mir unter die Nase.
Hier. Schauen Sie sich das Foto an. Wie aus dem Gesicht geschnitten.
Ich betrachte das Foto. Es hat, wie nicht anders zu erwarten, nicht die geringste Ähnlichkeit mit mir.
Tut mir Leid, sage ich. Ich sehe da keine Ähnlichkeit.
Nun nimmt er selbst das Foto, betrachtet es lange, schaut abwechselnd das Foto und mich prüfend an. Schließlich schüttelt er den Kopf.
Sie haben Recht, sagt er. Merkwürdig, einen Augenblick lang dachte ich… Entschuldigen Sie bitte.

Weg ist er. Geht, immer noch kopfschüttelnd, davon. Vielleicht ist es gar nicht mein Gesicht. Vielleicht ist es etwas in meinem Blick oder in meiner Haltung, meiner Art, mich zu bewegen. Vielleicht hat es überhaupt nichts mit Ähnlichkeit zu tun. Sie stutzen, starren mich an, als erblickten sie ein Gespenst. Manchmal halten sie sich mit der Hand den Mund zu, um nicht zu sagen, was sie dann meistens doch sagen: Entschuldigen Sie, sind Sie nicht…? Offenbar trifft sie die Erkenntnis oder was sie dafür halten, bei meinem Anblick wie ein Blitz, und noch ehe sie sich bewusst werden, was mit ihnen passiert, ist ihnen die Frage schon herausgerutscht.

Das Interessante ist, dass sie mich nie mit lebenden Personen verwechseln, immer nur mit Personen, die bereits gestorben sind oder von denen sie zumindest bis zu diesem Augenblick angenommen haben, sie seien gestorben. Wenn ich nach einem solchen Erlebnis heimkomme, stehe ich manchmal lange im Bad vor dem Spiegel und betrachte mich. Ich versuche mich dann so zu sehen, wie die anderen mich sehen. Ich blicke ins Waschbecken, vertiefe mich in die Risse im Porzellan, die Reste von Zahnpasta, die braunen Kalkablagerungen um den Abfluss herum, und hebe dann ganz plötzlich den Blick: Da! Dieser Kerl, ist das nicht…?

Und auf einmal glaube auch ich es zu sehen: Das ist doch der Herr Göbel aus der Kettenhofstraße, der schon vor über zehn Jahren an Krebs gestorben ist. Oder ich sehe im Spiegel meinen Onkel Karel, der auf dem Dachboden unseres Hauses ein Funkgerät installiert hatte, mit dem er Signale in den Weltraum sandte, um mit Lebewesen auf fernen Gestirnen Kontakt aufzunehmen. Oder meinen Großvater väterlicherseits, der im Jahre 1904 nach Amerika ausgewandert ist, um in St. Louis ein Symphonieorchester aufzubauen, das es dort allerdings schon lange gab, was er nicht wusste, und so kehrt er denn schon wenige Jahre später, mit Frau und einem Kleinkind, meinem Vater, nach Frankreich zurück, weil seine Vorstellungen von Musik in der Neuen Welt wenig Anklang fanden.

Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich seit Jahren fast nur noch mit Toten umgehe. Ich lese in alten Briefen, betrachte vergilbte Fotos, vergegenwärtige mir die Geschichten von Menschen, die es nicht mehr gibt, erwecke sie zu einem zweiten Leben, indem ich ihnen meine Gedanken, Träume, Phantasien einhauche. Wahrscheinlich sieht man mir mittlerweile meinen Umgang an. Vielleicht erschrecken sie darum bei meinem Anblick, vielleicht spüren sie in meiner Nähe etwas von der Grabeskühle, die alle Boten aus dem Totenreich umgibt.

Ich sitze in meinem Sessel und sehe eine Straße vor mir, sehe die grauen Fassaden, sehe die Straßenbahnschienen, die im sanften Bogen den Kramerberg hinaufführen, in der untergehenden Sonne glänzen, sehe im Milch- und Käsegeschäft meiner Eltern die Frauen in Wintermänteln und mit Kopftüchern und die Männer, die die Ohrenklappen ihrer Schirmmützen heruntergezogen haben. Stumm stehen sie da mit ihren Milchkannen, in langer Reihe zur Tür und auf die Straße hinaus. Es ist eine verwehte Melodie um sie, ein alter Schlager aus dem Radio oder dem Grammophon. Ich sehe, wie mein Vater, das Litermaß in der Rechten, für einen Moment den Kopf hebt und lauscht, wie ein Lächeln über sein Gesicht gleitet, ein Lächeln, wie es nur Tote zustande bringen.

1931 oder 1932 ist das, ich bin noch nicht geboren. Für Ungeborene, sollte man meinen, ist es leichter sich zu den Toten zu gesellen. Aber mich fröstelt trotzdem. Die Fotos auf meinem Schreibtisch, die alten Papiere, vergilbte Zeitungsausschnitte, Briefe, Aufzeichnungen, Registerauszüge, Zeugnisse. Inlichting uit de registers:  die Heiratsurkunde meiner Eltern, eine handschriftliche Kopie, mit rundem Stempel. Über allem der matte Glanz verloschenen Lebens. Es ist ausgestanden, für alle diese Menschen, deren Spuren ich sammele, ist der Lebenskampf ausgestanden. Ihr Leben ist geronnen, ihre Zeit ist eine andere Zeit als die meine, ihre Orte sind bereits in die Ortlosigkeit entrückt. Wie vom Grund eines ruhig dahinfließenden Gewässers, blicken sie mich auf den Fotos an. Ich soll ihre Geschichte erzählen? Warum soll gerade ich ihre Geschichte erzählen? Wer ihre Geschichte erzählen will, muß ins Totenreich hinab, und gerade heute hätte ich Lust, unter Menschen zu sein, unter richtigen, lebendigen Menschen.

Johano Strasser


Alltagsrettung Nr. 36 

Worte in die Bäume hängen, zwischen frisch geschlüpfte Blätter, in die kahlen Äste, unter reife Blüten, Früchte, Beeren. Vogelfutter für Hungrige, Weltenwanderer, Passanten. Wer will, kann Worte pflücken und sich munden lassen. Kann andere Worte ablegen, aushängen, weiterschenken. Es ist ein Spiel, das keine Sieger kennt und keine Verlierer, kein Regelwerk, keine Jahreszeit. Nicht einmal Papier und Stift sind vonnöten. Siehst du sie glitzern, hörst du ihr Flüstern? Worte wie Wind wie Nacht wie Sonne wie Regen, zart, zerbeult, verboten, verwegen, verweht, versäumt, zerzaust, geträumt, gepflückt, gelesen, gewachsen, gewesen. Greif zu, bedien dich – und im Weitergehen trägst du auf der Zunge den Geschmack geschenkten Glücks.

Barbara Krohn 
(Aus: Alltagsrettung, edition lichtung, Viechtach 2010)


Norwegische Fjorde

 Melodien ziehen sirrend
über das Wasser.
Auf dem Zerrspiegel
alter Seelen,
die ihre Tränen schenkten,
um Täler auszuspülen
treiben wir im Boot dahin.

 Baumwipfel wispern
Tiere singen hoch oben,
wo Einsamkeit nicht existiert,
weil der Mensch nicht herrscht.

Verwunschenes Licht.
Wasser fällt in
göttlicher Stille.

Verena Rabe


Besinnlicht

Die Stille Nacht hat sich aufgehängt.
Mit einem Elektrokabel. Nun baumelt sie von Dächern und Balkonen, an Hausfassaden, vor und hinter Zimmerfenstern, rund um Hauseingänge, über Hecken, quer durch Vorgärten, Bäume hinauf und wieder hinunter. Und morst ein vielfarbiges S.O.S. in die dunklen Tage. Aber kein Mensch sieht hin. Am anderen Ende des Kabels hängt Roger Whittaker und pfeift auf Besinnlichkeit. In Kaufhäusern, Fußgängerzonen und natürlich auf den Weihnachtsmärkten intoniert er, von achtlosen CD-Einlegern gänzlich unausgesteuert, den Soundtrack zu dieser Bescherung. Der alte Nikolaus hat schon lange das Weite gesucht, rote Weihnachtsmänner beherrschen nun die Innenstädte. Aber auch sie sind scheinbar auf der Flucht und seilen sich frühzeitig ab. Von Dächern und Balkonen, an Hausfassaden… Allein, sie wissen nicht wohin und so lassen sie sich hängen. Seit November nach Luft ringend und im Vorweihnachtbrausen allmählich erschlaffend.

Früher reichte uns ein Lichtlein, das brannte.
Dann zwei, dann drei, dann vier. Und dann erst stand ein Tannenbaum vor der Tür, der am Heiligen Abend feierlich geschmückt wurde. Heute muss mindestens eine bunte Lichterkette ganztägig die Vorfreude ihres Besitzers ausstrahlen. Die Fehlschaltungen selbst berufener Deko-Artisten verwandeln mausgraue Straßenzüge in Wettstreit-Meilen: Wo weihnachtet es am meisten? Puffrot pulsieren Sterne in den Fenstern, erhellen den Unterschied zwischen Beleuchtung und Erleuchtung.

Amir Shaheen

(Erschienen in: Schließlichter — Gesammelte Werthmann-Kolumnen 2008 – 2010, Sujet Verlag, Bremen 2012)


Gerufen
komm ich
aus weiter Ferne.
Das Käuzchen
ist mein Begleiter.
Wo der Stern fehlt
führt sein spitzer Schrei
durch die Nacht.
Wie still ist dagegen der Morgen.
Kein Vogel kann mir
den Traum
ersingen.

Vera Botterbusch


Weihnachtskartenfieber

Eine der angenehmen Seiten von Venedig besteht darin, vom Weihnachtswahn verschont zu bleiben. Während die restliche Welt bereits unter einer Kruste aus Engelshaar und Goldpapier und Bratäpfeln erstarrt ist, grübeln die venezianischen Geschäftsleute noch darüber nach, ob sie dieses Jahr tatsächlich Lichterketten aufhängen sollen, wenn ja, wie die Kosten geteilt werden sollen, und ob die Lichterketten bis Karneval hängen bleiben können, damit sich die Ausgabe lohnt. In den Restaurants fangen gelangweilte Kellner zwei Tage vor Weihnachten damit an, Watte zu Schneeflocken zu zerpflücken, hier und da Konfetti zu verstreuen, sowie Luftballons und Glitzergirlanden aufzuhängen – damit man mit der Dekoration auch an Ostern noch auf der sicheren Seite steht.

In der ersten Adventswoche belächle ich noch das ferne, von Glühwein, Pfeffernüssen und Weihnachtsmärkten verpestete Deutschland, in der zweiten Adventswoche spotte ich über die englische Seuche, jeden empfangenen Weihnachtsgruß wie eine Trophäe auf dem Kaminsims aufzustellen – jedoch spätestens in der dritten Adventswoche renne ich mit Tunnelblick durch Venedig, auf der Suche nach Weihnachtskarten.

Es gibt dafür keine rationale Erklärung, man kann mir weder Urlaubspostkarten noch Geburtstagsglückwünsche nachsagen, doch kurz vor Weihnachten bricht in mir eine gewisse Tendenz zur Frömmelei aus, anders kann ich mir mein Verhalten nicht erklären. Vergeblich suche ich in der venezianischen Weihnachtsdiaspora nach Weihnachtskarten. Selbst an Engel kommt man hier nur über Beziehungen, der Rest besteht aus jahreszeitlich neutralen Motiven, zugeschnitten auf Touristenbedürfnisse: handgeschöpfte Ansichten des Canal Grande, Dogen auf Marmorpapier und venezianische Löwen aus Pflanzenfarben.

Inzwischen sind es nur noch fünf Tage bis Weihnachten, selbst Motive wie Weihnachtsmänner in Minirocken würden mich nun glücklich machen, meinetwegen auch Hand- oder Fußgemaltes, ich wäre mir nicht zu schade, eine Prägekarte mit der Aufschrift „Weihnachten heißt: Gott holt uns ab. Egal, wo wir sind“ zu kaufen und schäme mich nicht zu gestehen, dass ich in meiner Not einmal Weihnachtskarten selbst gebastelt habe: Ich stempelte kleine, goldene Engelsköpfe auf Büttenpapier, und das, obwohl ich ein erklärter Feind des Bastelns bin, schon als Kind bin ich beim Strohsternekleben gescheitert. Mal saß der Engelskopf nicht richtig in der Mitte, mal war er verwackelt, weil ich den Stempel nicht fest genug gedrückt hatte, am Ende waren meine Finger und Haare mit Goldfarbe verklebt, das Genick versteift, aber das ist der Preis, wenn man die Menschheit retten will.

Erst schreibe ich langjährigen Freundinnen und sympathischen Kollegen. Dann schreibe ich flüchtigen Bekannten und unsympathischen Kollegen. Dann meinen Tanten und meinen zahlreichen, entfernten polnischen Verwandten. Jetzt könnte ich eigentlich aufhören, aber ich kann mich in meiner Güte nicht mehr bremsen, rücksichtslos schreibe ich weiter, an verblichene Liebhaber, an den neapolitanischen Camorrista, den ich bei einer Reportage kennengelernt habe und der ja schließlich auch ein Mensch ist, und an den Chefredakteur, mit dem ich mich wegen einer gestrichenen Passage in meiner letzten Reportage überworfen habe.

Erschwerend kommt hinzu, dass meine Weihnachtsbotschaft persönlich sein soll, eine Kurzgeschichte in drei, vier Zeilen, schließlich bin ich jemand, der sein Leben mit Schreiben verbringt, da herrscht eine gewisse Erwartungshaltung, die mich etwas unter Druck setzt. Aber nur die ersten zehn Karten lang, dann habe ich keine Zeit mehr und gehe dazu über, an alle den gleichen Grußtext zu schreiben, den Erfolgreichen Erfolg, den Arbeitssüchtigen Arbeit und den Liebhabern ein Liebesleben zu wünschen, froheweihnachtengutenrutsch, fertig, zumal ich mit dem Handikap geschlagen bin, jede Weihnachtskarte zwei Mal schreiben zu müssen, weil ich die Schönschrift nicht hinkriege.

Auch angesichts dieses Unvermögens dachte ich letztes Jahr daran, Weihnachtsemails statt Weihnachtskarten verschicken. So wie der Rest der Welt auch, minütlich gingen Weihnachtsemails mit munteren Fotomotiven ein: Hund mit Weihnachtsmannmütze/ Ehemann mit Kerze auf dem Kopf vor Weihnachtsbaum/ Kind mit Strohsternen. Und fast immer der gleiche Text: Ich wünsche Ihnen/euch/dir frohe Weihnachten und ein glückliches Neues Jahr bei guter Gesundheit. Nur ehrgeizige Kreative zitierten die Bibel: Und die Erde war wüst und leer. Genesis 1,2.

Ich habe dann einen Engel fotografiert. Und ihn an alle geschickt. Klick und weg. Allerdings schloss das meine polnischen Verwandten, meine Tanten und den Camorrista aus, weil sie über keinen Email-Anschluss verfügen. Heimlich habe ich dann noch sechzig Weihnachtskarten mit der Hand geschrieben. Weil ich das Gefühl hatte, dass ich sonst in die Hölle komme.

Petra Reski


Nach Lichtmess

Immer noch denk ich
vorm Schlafen oft
den Stern auszuschalten.
Dabei hängt er längst
neben dem Schlitten
im Keller als weißer Zwerg.
Unbeachtet verstaubt
bis er uns im Advent
aufgeht als Supernova.

Christoph Kuhn
(Erstveröffentlichung in Poesiealbum 348, Märkischer Verlag Wilhelmshorst 2019)


Schlafen

Nachdem ich in den letzten Wochen jeden Abend vergeblich einzuschlafen versuchte, beschließe ich, das Schlafen vorerst ganz aufzugeben. Zunächst wächst die Müdigkeit. Ich habe Probleme, beim Bäcker das Geld herauszusuchen, im Büro stapeln sich die Briefe, und als ich am Morgen nach der Straßenbahn renne, trete ich fehl. Die Nächte sind unendlich lang, wie Autobahnfahrten. Weil ich zum Lesen zu müde bin, sehe ich fern, aber selbst bei den Verkaufssendungen bleibe ich wach. Nur einmal nicke ich weg, beim Gespräch mit meinem Bankberater.

Nach ein paar Tagen fühle ich mich besser. Meine Augen hören auf zu brennen, und ich arbeite schneller und kann das Büro oft schon gegen sechzehn Uhr verlassen. Ich verabrede mich mit Freunden, die ich seit Jahren wiedersehen will. Einen küsse ich sogar, und wir treffen uns noch ein- oder zweimal, ehe er mir gesteht, dass er verheiratet ist. Ich nutze die Spätbadestunde, sortiere endlich meine Finanzen, bereite das nächste Meeting vor. Ich telefoniere mit meinen Eltern, lese Romane, sehe mir Komödien und danach den Sonnenaufgang an.

Doch vor einer Sitzung hält eine Kollegin mich auf: „Hast du dich heute Morgen nicht gekämmt?“ Und sie zieht eine Feder aus meinem Haar, weich und weiß und ein wenig künstlich, so wie die Federn meiner Daunendecke, unter der ich doch seit Wochen nicht mehr gelegen habe.

Katharina Bendixen