Evin-Gefängnis, Teheran, Sektion 209 – ein Blick hinter die Mauern

Atefeh Chaharmahalian
Foto: cpiran

72 Tage wurde die Dichterin Atefeh Chaharmalian im berüchtigten Evin-Gefängnis in Untersuchungshaft gehalten, bis sie auf Kaution freikam und zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt wurde. Jetzt erzählt sie von ihrer Haft – auch diese Zeilen sind riskant.

Kein Anwalt, keine medizinische Versorgung, monatelange Untersuchungshaft ohne Anklage, in Isolationshaft oder zusammengepfercht mit vielen anderen, Angst und Gewalt, das sind Erfahrungen der Häftlinge im berüchtigten Evin-Gefängnis im Norden Teherans, schon unter dem Schah, jetzt in der Islamischen Republik ein Leidensort für politisch Verfolgte, wie für die Dichterin Atefeh Chaharmalian, eine der mutigen Frauen ihres Landes; Lyrikerin, Aktivistin und früher im Vorstand des verbotenen iranischen Schriftstellerverbands IWA (Iranian Writers Assoziation), der seit Jahrzehnten um die Freiheit des Wortes ringt.

1981 in der Provinz Chuzestan, im Südwesten des Iran geboren, ist Atefeh Chaharmahalian längst eine der wichtigsten Dichterinnen der postrevolutionären Ära. Am 3. Oktober 2022 wurde sie im Zuge der Proteste in Teheran verhaftet und 72 Tage im Evin-Gefängnis festgehalten, unter massiver Verletzung der Menschenrechte. Das deutsche PEN-Zentrum protestierte und setzte sich für sie ein. Im Dezember kam sie auf Kaution frei. Im Januar kam das Urteil: Zwei Jahre und acht Monate Gefängnis, ausgesetzt auf fünf Jahre Bewährung, in denen sie sich in keiner Weise öffentlich äußern darf, nicht mal mit einem Gedicht.

Aber die Autorin und Aktivistin akzeptiert die Strafe nicht. Es wäre für sie der soziale Tod, sie würde unsichtbar gemacht, verstummen und verschwinden. Atefeh Chaharmahalian geht gegen das Urteil in Berufung und kämpft furchtlos weiter. Auch mit der „Notiz“ über ihre Haft im berüchtigten Evin-Gefängnis, seit 1971 ein Symbol des Schreckens. Ein „Warteraum des Todes“, wie Amnesty International diesen Kerker nannte. 2021 gelang es Hackern, in das Computersystem des Gefängnisses einzudringen. So kamen fünfzehn Videos an die Öffentlichkeit, welche die Misshandlungen zeigen. Es gab einen großen Aufschrei in der Öffentlichkeit, aus dem jedoch nichts folgte. Bei einem rätselhaften Brand im Winter kamen mehrere Häftlinge ums Leben, die Umstände blieben ungeklärt.

Abteilung 209, über die Atefeh Chaharmahalian schreibt, untersteht nicht der regulären Gefängnisleitung, es ist das Verhörgefängnis des Geheimdienstes. Es bedeutet sadistische Wärter, endlose, peinigende Verhöre, willkürliche Beschuldigungen, Lügen, Drohungen, Gewalt, psychische Folter und Todesangst. Die Einzelzellen für die Isolationshaft sind drei, vier Quadratmetern klein, Gemeinschaftszellen acht bis neun Quadratmeter, manchmal sind zwei Zellen verbunden. In einer solchen Zelle, befand sich Atefeh Chaharmalian, zuletzt mit etwa zehn anderen Frauen auf allerengstem Raum.

TEXT-AUSZUG

Junge Menschen, Teenager, wurden mitten in der Nacht in die Zelle gedrängt, und wir alle mussten in den beengten Verhältnissen der Zelle einen Platz zum Sitzen oder Liegen finden. Patienten wurden nicht behandelt und von Minute zu Minute kränker. Mit verbundenen Augen, auf der Suche nach einem Platz, sollten unsere Schritte nicht den Neuankömmling erschrecken, der hinter der Wand im Korridor saß und auf sein Verhör wartete. Die einzige Möglichkeit, uns die Hände zu reichen, waren Lieder der Freiheit und des Iran. Die unerbittlich vielen Leiden stehen ganz im Widerspruch zur Schönheit, die in jedem Leiden erblüht und aus den Nähten der Dunkelheit auftaucht. Diese Worte hier handeln von den verzweifelten Schreien nach Freiheit inmitten der brennenden Kugeln von Evin, von Schüssen und Feuer, von kurzen Telefonaten nach der Nacht des Feuers, als wir uns alle vorstellten, wie geliebte Menschen  erschossen wurden oder in Flammen aufgehen.

Für Neuankömmlinge war die Frauenabteilung auch ein offener Raum nach aller Todesangst. Jede Befreiung aus der Einzelhaft wurde gefeiert, mit einem Stück Obst und einem Glas Kaffee, dass den Geist erfrischte, und plötzlich verwandelten sich die Stimmen, die man hinter den Verhörwänden gehört hatte, in Namen und Gesichter eines Menschen. Die Freiheit von der Fessel der Augenbinde verlieh jeder vertrauten Stimme, jedem Schrei, jeder Erzählung jedem Gesicht und jedem Menschen eine unsterbliche und unauslöschliche Einzigartigkeit.

Die Verurteilten sind gezwungen, der Ideologie des herrschenden Systems Folge zu leisten. Das ist praktisch eine juristische Todesrede auf das Existenzrecht der Zivilgesellschaft im Iran, damit sie auf der Schwelle öffentlicher Amnestien kapituliert und ewige Reue bekundet oder zur Fahnenträgerin des Schweigens und des Todes dieser Gesellschaft wird oder in den Schoß des Gefängnisses zurückkehrt. Auch diese Zeilen hier, oder die Äußerung der Verurteilten, können zur Vollstreckung des Urteils und zu neuen Strafen führen, um sie mundtot zu machen.

Manche verbringen die Zeit in den vier Betonwänden des Gefängnisses mit der Hoffnung und Vertrauen auf lichtere Tage und Lebensmomente. Die Jugendbewegung, hat einen Anfang und einen Weg der Hoffnung gefunden. Ich weiß, dass ich den Menschen, die schon alles wissen, nichts zu sagen und zu schreiben habe, und ich frage mich, während Asche auf ihre verbrannten Träume fällt, zwischen den Tränen, Ruinen, Gräbern und Gefängnissen: Worüber will diese Regierung noch richten, was die Macht des Todes nicht längst zerstört hat?

(Auszüge. Der vollständige Text ist hier zu finden)