
Foto: Max Gödecke
Barbaros Altuğ ist ein türkischer Schriftsteller, Journalist und Literaturagent. Als Kolumnist und Autor über LGBT- und Minderheitenrechte in der Türkei erhielt er Morddrohungen und verließ nach dem gescheiterten Putsch 2016 und zunehmenden Repressionen die Türkei. Seit Dezember 2020 ist Altuğ Stipendiat des Writers-in-Exile-Programms.
Interviews und Berichte
- “Ausländer” von Barbaros Altuğ
Rezension von Dirk Fuhrig im WDR: Lesestoff – neue Bücher (20.10.2022) - “Türkei: ‘Hexenjagd’ auf Kulturschaffende”
Beitrag der Deutschen Welle, u.a. mit Barbaros Altuğ, über den Druck der türkischen Regierung auf Künstlerinnen und Künstler (15.07.2021) - „Berlin ist ein Sehnsuchtsort“
Interview von Ebru Taşdemir in der taz mit Barbaros Altuğ über die New Wave der türkischen Diaspora, den Genozid an den Armeniern und warum er Berlin sobald nicht verlassen will. (05.04.2020)
Texte von Barbaros Altuğ
Ausländer (Romanauszug)
Nicht wenn er erlebt, ist der Mensch glücklich, sondern wenn er sich erinnert.
Gehen wir fort von hier
Es war die Zeit, in der wohl alle den Plan hatten, das Land zu verlassen. Es ging uns nicht gut. Uns war klar geworden, dass die schönen Tage, die wir nicht richtig zu schätzen gewusst hatten, nun für immer vorbei waren. Der Sommer hatte gerade begonnen, doch es war schon extrem heiß. Zwar war es vielleicht genauso heiß wie in den vergangenen Jahren, doch die Stadt war für uns nicht mehr dieselbe; eine lange währende Gemeinschaft schien langsam zu zerfallen. Unsere Stammlokale hatten geschlossen, unsere Lieblingsdichter saßen im Gefängnis und es gab immer weniger Bücher, die wir noch hätten lesen wollen.“Jedenfalls war noch keine von uns dort”, sagte Suna, indem sie den Rauch ihrer extrem dünnen Zigarette zur Seite fortblies. Wir saßen an einem schattigen Tisch am Ende einer rechts und links von Cafés gesäumten Straße in Cihangir und tranken Eistee. Wie fast alle redeten auch wir darüber, die Stadt zu verlassen.
Sunas Freundin war mitsamt ihrer drei Kinder nach Lissabon ausgewandert und kam offenbar aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. Auswandern wollten wir zwar nicht, aber wenigstens wieder frei atmen können. “Fünf Tage lang gefällt es einem überall, aber vor allem dort, wo man noch nie war”, sagte Suna. Da hatte sie recht; nahezu alles ist schön, wenn man es gerade neu entdeckt. “Mir ist es egal, ich habe ja sowieso nichts zu tun”, sagte Tuba. Sie gehörte seit einem Jahr zu der Heerschar arbeitsloser Journalisten. “Wenn du gut genug wärst, hätten sie dich eingesperrt. Aber deine Artikel waren einfach zu harmlos, also wurdest du nur entlassen”, so zogen wir sie auf.Als wir von unserem Tisch aufstanden, war schon alles unter Dach und Fach. Wir hatten Tickets für den Flug nach Lissabon um 11.50 Uhr des nächsten Tages gebucht und einen Mietwagen reserviert.
Vielleicht hatte der Wodka , mit dem wir den Eistee angereichert hatten, seinen Teil dazu beigetragen, aber so war es jetzt eben. Wir würden nach Lissabon fliegen: Suna, Tuba und ich, Dunya. Vielleicht war es ebenso dem Wodka zu verdanken, dass wir keinerlei Angst mehr vor den Düsenjägern hatten, die noch im letzten Monat über dieselben Straßen geflogen waren, durch die wir nun gingen, ohne uns im Schatten der Bäume verstecken zu können, die es lang nicht mehr gab. Seit einer Ewigkeit waren wir erstmals wieder von Hoffnung erfüllt. Wie sehr jede von uns, zumindest vorübergehend, auf diese Hoffnung angewiesen war, das sollten wir in Lissabon erfahren.
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Aus dem Türkischen von Johannes Neuner