Guy Stern ist tot. Der amerikanische Germanist starb mit 101 Jahren am 7. Dezember in Michigan.
Dabei schien er vom Leben unbesiegbar zu sein, hatte ihm im Gegenteil Stärken und Kräfte abgerungen, die ihn sein Leben lang tragen sollten: Ausdauer. Scharfsinn. Beobachtungsgabe. Witz und Geist in feinsinniger Harmonie. Und Güte. Immer wieder. Wohlwollen und Güte, wenn seine ausdrucksstarken Augen ihr Gesprächs-Gegenüber abtasteten und das Gefühl vermittelten, angenommen zu werden.
Teil des lebenslangen Überlebenstrainings? Strategie? Sicherlich erprobt seit seinem fünfzehnten Lebensjahr, als der junge Hildesheimer in den USA allein bestehen musste und dem Rat seines Vaters folgte: „invisible ink“ zu sein. Im Laufe seines einhunderteinjährigen Lebens hat er die „unsichtbare Tinte“ als Schrift sichtbar gemacht, die sein Leben buchstabierte. Guy Stern war erlebte Geschichte zum Anfassen. Zum Staunen.
Ein Ritchie-Boy eben. Einer jener deutschsprachigen Emigranten, die in amerikanischer Uniform mit gezielter Gesprächsführung deutsche Soldaten zur Preisgabe von wichtigen Informationen überrumpelten und so zum Sieg über das Nazi-Regime beitrugen. Das ihn gezeichnet hatte. Das seine Familie auslöschte, die den fünfzehnjährigen Sohn zu einem Onkel in die USA geschickt hatten und damit sein Überleben sicherten.
Nach dem Krieg verschrieb sich Guy Stern der deutschen Sprache. Studierte sie, lehrte sie, wurde in ihr promoviert, um dann als Professor an Universitäten Exilliteratur zu unterrichten, das Bewusstsein für die Schrecken der Shoa zu schärfen und als Zeitzeuge und Vermittler aufzutreten. Deshalb nahm er auch immer wieder Einladungen zu Gastvorträgen in Deutschland an, die den exzellenten Redner umwarben.
2017 wurde Guy Stern als erster Preisträger mit dem Ovid-Preis des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland für sein Lebenswerk ausgezeichnet, 2018 hielt er die Laudatio auf Preisträgerin Herta Müller.
Guy Stern ist gestorben. Sein Vermächtnis aber wird leben: Sein Werben für Toleranz, Verständnis und Mitgefühl. Sein Aufruf, die Schrecken der Vergangenheit niemals zu vergessen, um eine bessere Zukunft aufzubauen.
Marion Tauschwitz für das PEN Zentrum Deutschland