Das diesjährige ICORN-Treffen (International Cities of Refugee Network) fand vom 22. – 24. März in Brüssel statt. In zahlreichen Panel-Diskussionen und Workshops wurde über die Arbeit des Netzwerks, praktische Herausforderungen und Zukunftsaussichten der eingeladenen Stipendiat*innen gesprochen. Es waren interessante, arbeitsreiche und anstrengende Tage.
Der durchgehende Tenor der Tagung war der Wunsch der Stipendiat*innen nach Ruhe. „Wir brauchen Zeit, um ohne Druck schreiben zu können. Wir brauchen Zeit, um anzukommen, uns zurechtzufinden und uns mit Traumata auseinandersetzen zu können“, sagte die Schriftstellerin Somaya El-Sousi, die aus Gaza nach Norwegen kam. Vielfach sei diese Zeit aber durch die Bewältigung administrativer und anderer Dinge in Anspruch genommen.
In weiteren Panels wurden Publikationsmöglichkeiten diskutiert, wobei die Vertreterin aus Norwegen vor dem Selfpublishing warnte. Für Norwegen ist das Erlernen der Landessprache obligatorisch. Allerdings gäbe es auch einen praktischen Anreiz: die Autor*innen hätten durch das Erlernen der Sprache später die Möglichkeit, die Qualität ihrer Übersetzungen selbst zu kontrollieren.
Michael Ribbenvik, Generaldirektor der schwedischen Agentur für Migration, sprach u.a. darüber, vorhandene Gesetzestexte im Sinne von Migrant*innen „kreativ auszulegen“. Dies sei oft effektiver, als neue Gesetze zu schaffen, die vielleicht Gutes wollten, aber den vorhandenen Spielraum einengten.
Sehr eindrucksvoll in Inhalt und Darstellung war der kenianische Film „Walking with Shadows“ nach der gleichnamigen Erzählung von Jude Dibia, der selbst in den Film einführte. Es geht um die Verheimlichung von Homosexualität in Kenia und die daraus erwachsenden familiären und gesellschaftlichen Konflikte. Der Film ist ein starkes Plädoyer für Liberalität und Offenheit.
Interessant war ein speed-dating mit dem Titel „Building Cultural Bridges“ in welchem im Takt von etwa 20 Minuten unterschiedliche Themen in verschiedenen Gruppierungen diskutiert wurden, so das Konzept von „shared reading“. Hier liest ein/e Autor*in einen Text, der dann von den Anwesenden spontan diskutiert wird. Dabei geht es um die inhaltliche Relevanz und weniger um literaturtheoretische Aspekte. Diese Veranstaltungen finden in Bibliotheken in Skandinavien statt, sind gratis, jedoch mit Voranmeldung zugänglich. Gelesen wird nicht nur in der jeweiligen Landessprache, sondern auch auf Arabisch, Ukrainisch, Polnisch oder in anderen europäischen Sprachen, je nach Bedarf.
In zwei Veranstaltungen mit dem Titel „Conversations with friends“ kamen die Schriftsteller*innen und Journalist*innen Shoaib Durrazai (Balochistan), Dessale Berekhet, Wahab Michael Sbahtu und Mengesha Habte (Eritrea), Azhar Al-Rubaie (Irak), Zahra Hussaini (Afghanistan) und Atefe Asadi (Iran) zu Wort. Besonders erschütternd war der Bericht der drei Journalisten aus Eritrea. Sie beklagten die Abwesenheit jeglicher Bildungsmöglichkeiten. Verheerend sei auch die vollkommene Unterbindung des Internets, welches sie als „Zugang zum Wissen“ bezeichneten. Diese totale Abwesenheit von virtueller Kommunikation wurde von einer totalen Überwachung im Iran kontrastiert: das „Ministry of Islamic Culture and Guidance“ überwacht jede Form von Veröffentlichung und kultureller Arbeit. Dennoch sei es möglich, Literatur an der Zensur vorbei zu veröffentlichen und unter der Hand zu verbreiten.
Über 70 Städte weltweit sind dem ICORN-Netzwerk angeschlossen (www.icorn.org). Besonders prominent und zahlreich vertreten in Brüssel waren die skandinavischen Länder, allen voran Norwegen, welches die meisten ICORN-Partnerstädte weltweit hat. Die Programmdirektion ist in Stavanger. ICORN arbeitet mit PEN-Zentren weltweit zusammen und pflegt einen intensiven Austausch in Erfahrung und auch in der Vermittlung von Stipendiat*innen. Im Gegensatz zu den PEN-Zentren werden in ICORN-Städten auch Bildende Künstler*innen, Musiker*innen, Journalist*innen oder Fotograf*innen aufgenommen. Die Aufnahmeprozesse können bis zu drei Jahre dauern, die Aufnahmekriterien sind meist streng. In der Eröffnungsveranstaltung war die Fotografin Hayat Al-Sharif aus dem Yemen per Video zugeschaltet, die dort ihren Beruf unter Lebensgefahr ausgeübt hatte. Sie befand sich inzwischen in Norwegen, konnte aber nicht nach Brüssel reisen, weil ihr das Visum nicht rechtzeitig erteilt worden war.
Als Writers-in-Exile-Beauftragte des PEN Deutschland konnte ich dem Vertreter der ICORN-Stadt Pittsburgh ein kurzes Interview geben und informierte darin über das WiE-Programm.
Ein großer Dank gilt dem wallonischen Organisations-Team, das nicht nur für einen reibungslosen Ablauf sorgte, sondern uns einen überaus freundlichen Empfang bereitete.
Astrid Vehstedt
Writers-in-Exile-Beauftragte
Vizepräsidentin PEN Deutschland