
Nazli Karabiyikoglu
Die türkische Autorin und Aktivistin Nazli Karabiyikoglu wurde 1986 in Ankara geboren. An der durch den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan aktuell unter Druck stehenden Eliteuniversität Bogaziçi studierte Karabiyikoglu Türkische Sprache und Literatur und veröffentlichte inzwischen fünf Bücher, vier Erzählbände und einen Roman, für die sie in der Türkei mit sechs Preisen ausgezeichnet wurde. Aufgrund der politischen und geschlechterspezifischen Unterdrückung in der Türkei entschied sie sich, die türkische #Metoo-Bewegung voranzutreiben und sich innerhalb der türkischen Verlagsindustrie für politische Minderheiten einzusetzen.
In ihrem Heimatland deckte sie sexuelle Belästigung, Vergewaltigungskultur und Mobbing innerhalb der türkischen Literaturszene auf. Aufgrund dieser Recherchen und Artikel über die fortdauernden sexuellen Übergriffe, der sie und ihre Kolleginnen ausgesetzt waren, und der Texte, die sie über dieses Thema veröffentlichte, wurde sie von der Verlagsgemeinschaft ausgeschlossen. Als queere Frau lebte die Schriftstellerin unter der ständigen Angst, verhaftet oder getötet zu werden. Als der Druck aufgrund der anhaltenden Repressionen und der eingeschränkten Meinungsfreiheit zu groß wurde, floh sie im Jahr 2017 in das christlich orthodox geprägte Georgien, wo sie ebenfalls Anfeindungen und Unterdrückung ausgesetzt war.
Als feministische Aktivistin kämpft sie für die Rede- und Schaffensfreiheit. Mit ihrer Arbeit macht sie auf die Missstände innerhalb der türkischen Gefängnisse und inländische Konflikte aufmerksam. Sie möchte frei über eines der größten moralischen Tabus ihres Landes schreiben, das zu vielen Morden in der LGTBQ Community führt, der Homosexualität.
Nachdem Nazli Karabiyikoglu in ihrem Land wichtige Literaturpreise gewonnen hatte, begann sie 2009 für Zeitschriften zu arbeiten. Für ihre Texte bekam sie unter anderem den Preis der UnCollected Press/Raw Art Review Full Length Book of Short Stories.
Seit Februar 2021 lebt Nazli Karabiyikoglu als Stipendiatin des Writers in Exile-Programms des deutschen PEN-Zentrums in Deutschland. Außerdem wurde sie für ein zweijähriges Stipendiumim Human Rights-Programm (Masterstudiengang) an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg ausgewählt
Für ihren neusten Roman „Elfiye“ wurde sie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin Eva Lacour vom Deutschen Übersetzerfonds Neustart Kultur mit einer Vollförderung für die deutsche Übersetzung des Romans ausgezeichnet.
Vater und die Tekke
Er fürchtete sich wohl. Plötzlich schwoll die Welle an. Vom Felsrand aus griff sie auf seinen Schuh über. Eine Weile wogte es in ihm zwischen lau und schneidend kalt. Die Brandung erfasste sein Haar an den Wurzeln und schlang es ihm ums Handgelenk. Er fiel hin. Kleiner Kies in der Handfläche, er musste ihn abschütteln. Er stützte sich auf die Hand, erhob sich. Tiefe Furchen in der Haut haben. Die Wolken aufreißen. Geht die Sonne noch nicht unter? Wird der Himmel nicht bald rot? Die Wellen sollen hochschlagen, sollen ihn verschlucken.
Er trat aus der Tekke, dem Rückzugsort des Derwischordens. Auf den Lippen noch der Geschmack des Rocks, an dem er das Gesicht gerieben hatte. Im linken Ohr hallte ihm der gekeuchte Singsang nach, schlimmer als der Schrei aus seinem eigenen Mund. Er hielt sich den Kopf, den er nicht einmal hatte heben können, um sein schönes Gesicht zu betrachten. Wie viele Jahre schon, er ärgerte sich. Sein Knöchel – au – stieß gegen die schiefen, runden Steine des Wegs. Er knickte um. Holte etwas Speichel zwischen den Lippen hervor und tupfte ihn auf die leicht gerötete Stelle. Während sein Blick auf den Vogel fiel, der sich auf dem Dach eines der alten Holzhäuser niedergelassen hatte, spürte er würgenden Ekel beim Gedanken an die Suppe, die von Vaters Bart troff. Er trat auf die Stufe, um an der Tür zu klopfen. Man machte ihm auf. „Schwer, schwer, schwere Zeiten“, stotterte der Vater, an dessen Tisch er sich setzte. Sie beteten. Sie dankten Gott. die Tarhanasuppe tropfte vom Löffel. Die Mütter schauten und waren so geistesgegenwärtig, Brot zu reichen. Sie zogen das Salz unter dem Mund fort, der für das geheiligte Dasein von Sultan Abdülhamid dankte. Obwohl sein Verstand, der aus seinem Mund strömen könnte, schrie, es sei schwer, schwer, schwer zu schlucken, bezwang er seinen Magen. Ungeduldig wartete er auf das Kohlebecken, um die Geschichte fortsetzen zu können, die er auf die Rückseite des wer-weiß-wievielten Dschuz‘ geschrieben hatte, und lehnte den Kopf an die Schulter seiner echten Mutter.
Sie zappelte ein bisschen. Das war unangenehm. Er schielte über das Ende des Löffels, der über das Pilawgericht glitt. Die Körner in Vaters Schnurrbart sprachen: „Sie haben das Gottvertrauen und die Nacht vergessen. Ich habe Druckschriften in die Finger bekommen. Lies sie nicht. Habe einen Blick hinein geworfen. Sie haben wohl vergessen, was für einen mächtigen Schatten der Sultan wirft! Die leben wie in der Wüste, wo die Sonne hoch steht.“
In seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er angefangen, in die Tekke zu gehen, um der Schlechtigkeit des Vaters zu entgehen. Sie sagten, er rezitiere viel, rezitiere gut, spreche deutlich, mit guter Melodie. Er war gerettet. […]
Aus dem Türkischen von Eva Lacour